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27.07.2021

“Das große Wunder, dass wir hier in Rostock weg sind, einen ganzen Freundeskreis, Familie, Schule hier gelassen haben und neu angefangen haben und das innerhalb einer Woche passiert ist. […] Und ich sage es nochmal, ich bin der Meinung, das sei einer der großen Wunder, die ab und zu passieren können; anders kann ich es gar nicht beschreiben.
(Interview mit Albrecht Josephy-Hablützel im Max-Samuel-Haus am 14. Juli 2021, Steffi Katschke [Interviewerin],Rostock: Audiodatei 2021)

Bild Carleen Albrecht Josephy
Albrecht Josephy (Juli 2021) (Foto: Autorin)

Mit diesen Worten schilderte Albrecht Josephy seine Flucht 1938 vor der nationalsozialistischen Diktatur in die Schweiz, vorletzten Mittwoch (14. Juli 2021) konnten wir den langjährigen Gast des Max Samuel-Hauses begrüßen und seine bewegende Geschichte aufnehmen.  

Albrecht Josephy wurde 1926 in Rostock in die Zeit der Weimarer Republik hineingeboren. Sein Vater Dr. Richard Josephy, zu der Geburt seines Sohnes 36 Jahre alt, arbeitete als Rechtsanwalt und Notar. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln wurde ihm im Zuge der zahlreichen Gesetze der Nationalsozialist*innen ab 1933, die Juden*Jüdinnen aus dem öffentlichen Leben verdrängten, sein Notariat entzogen und Dr. Richard Josephy konnte nur noch als sogenannter “Rechtskonsulent” tätig werden, als welcher er jüdischen Menschen und Gemeinden Rechtsbeistand leistete.  

Die vier Jahre jüngere Mutter Carmelita Josephy, geborene Willert, stammte aus einer lutherischen Familie und erzog Albrecht Josephy und seine drei Schwestern im evangelischen Glauben. 

Bis 1938 war es Albrecht Josephy möglich, das Gymnasium zu besuchen obwohl sich seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 die Ausgrenzung der als jüdisch stigmatisierten Personen täglich intensivierte. Besonders eindrücklich erscheinen diese Geschehnisse aus den Augen eines Kindes. So berichtete Albrecht Josephy nicht etwa als erstes über Boykotte jüdischer Geschäfte, sondern erinnerte sich daran, wie es ihm als Kind verboten wurde, in die Hitlerjugend einzutreten oder andere Jugendliche nicht mehr mit ihm spielen durften. 

Am 9. November 1938, der Reichspogromnacht, brannten in Deutschland die Synagogen, jüdisches Eigentum wurde zerschmettert, Männer mit jüdischen Wurzeln wurden in “Schutzhaft” genommen, wo sie willkürlich der nationalsozialistischen Gewalt ausgesetzt waren. Am Vormittag des 10. Novembers ereilten diese Ereignisse auch Rostock. Carmelita Josephy schrieb in ihren Erinnerungen darüber:

Carmelita Joesphy
Carmelita Josephy-Willert (Privatbesitz)

“[…] morgens gegen 10 Uhr, drangen ca. 50 SS Burschen […] bei uns ein. Ich wurde in die Ecke der Toilette gestellt, von einem SS-Mann bewacht, der mich – betrunken wie er war – verhöhnte, daß ich die Frau eines Juden war. Das Demolieren begann und ich mußte mit anhören, wie alles krachte. […] Die Möbel wurden zerfetzt oder angesägt. Die Schreibmaschine sowie alles andere, was durch die Fenster flog, durfte ich nicht wieder holen, da bis zur Nacht Wache aufgestellt war, und die Passanten fast alles stahlen, was draußen lag. […]”
(Josephy, Carmelita: Schilderungen der Geschehnisse am 10. November 1933 in der Graf-Schack-Straße, Rostock, verfasst am 12. Juli 1949, Zell, gefunden in: Stadtarchiv Rostok)

Albrecht Josephy sah die Zerstörung erst einige Stunden später, da er, es war ein Donnerstag, den Vormittag zunächst in der Schule verbrachte, bis ihn der Schuldirektor aus Vorsicht zu seiner “arischen” Großmutter schickte.  

Wenige Tage später begann für Albrecht Josephy und zwei seiner Schwestern ein vollkommen neues Leben, die Mutter brachte die drei älteren Kinder nach Berlin, von dort aus mussten sie alleine in die Schweiz kommen. Die jüngste Schwester Dorothea blieb bei der Mutter. In Riehen, einer kleinen Gemeinde in der Nähe der Stadt Basel, sollten Albrecht und seine zwei Geschwister nun bei zwei ihnen unbekannten Familien aufwachsen. Albrecht Josephy war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zwölf Jahre alt.  

Richard Josephy
Richard Josephy (Privatbesitz)

Während des Krieges blieben die Kinder mit den Eltern über Briefe in Kontakt, 1944 jedoch sollte die Kinder eine erschütternde Nachricht erreichen. Als Jude war es dem Vater nicht erlaubt, einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Während seine Frau und die jüngste Tochter überlebten, kam er während eines Bombenangriffes der Alliierten in ihrer Wohnung um. Hatte Carmelita Josephy unter Anfeindungen zu ihm gestanden und ihn damit vor der Deportation ins Konzentrationslager bewahrt, starb er knapp ein Jahr vor Kriegsende. Ihre Mutter sahen die Kinder erst nach Kriegsende bei einem Besuch in der Schweiz wieder.  

Ein anderer Schock erreichte Albrecht Josephy in den späten Kriegsjahren: Eine Einberufung ins deutsche Konsulat in Bern mit der Aufforderung in die Wehrmacht einzutreten. Er widersetzte sich und ihm wurde im Zuge dessen die Staatsangehörigkeit abgesprochen. Bis zu seiner Einbürgerung in die Schweiz nach zehn Jahren blieb er damit staatenlos.   

Albrecht Josephy hat bis heute nicht die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Er studierte in der Schweiz und arbeitet dort auch den größten Teil seines Lebens. In seine alte Heimat reiste er das erste Mal 1993 in Zusammenhang mit einem Empfang im Max-Samuel-Haus. Über diese erste Begegnung berichtete er rückblickend:  

“Ich will die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass ich lange Zeit ein gebrochenes
Verhältnis zu Deutschland, dem Vaterland meines Vaters und meiner Mutter, hatte – zerbrochenes Vertrauen, hervorgerufen durch das ‘von oben’ diktierte Gehabe von Nachbarn und Bekannten, von Spiel- und Schulkameraden, von Lehrern, abgesehen von eher wenigen Ausnahmen […]. Ein Kreis von motivierten, offenen und aktiven Menschen in Rostock erleichterte den Prozess des Wiederkommens, des Anknüpfens, des Wiedererkennens – und zwar im Garten des Max-Samuel-Hauses.”
 
(Josephy-Hablützel, Albrecht: Wiederbegegnung mit Deutschland – Wiederbegegnung mit Rostock – Wiederbegegnung mit dem Haus, in welchem die Familie von Max Samuel, eines guten Freundes meines Vaters, wohnte - , in: Max-Samuel-Haus, Stiftung Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur (Hrsg.): Blätter aus dem Max-Samuel-Haus, Rostock September 2001, Nr. 20 – Sonderausgabe 10 Jahre Max-Samuel-Haus) 

Seitdem besucht Albrecht Josephy mit seiner Frau Susann fast jedes Jahr Rostock und engagiert sich in unserer Stiftung. Auch gab es beispielsweise 2012/2013 eine Ausstellung zur (jüdischen) Familie Josephy, deren Wurzeln in Mecklenburg-Vorpommern bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, welche Albrecht Josephy mit vielen Exponaten aus seinem eigenen Archiv bestücken konnte. Dass wir Albrecht Josephy im Jubiläumsjahr des Max-Samuel-Hauses zum 30jährigen Bestehen digital festhalten konnten, war ein einmaliges, berührendes Erlebnis. 

Das Material wird für kommende Besucher*innen aufbereitet werden und soll einen Beitrag gegen das Vergessen deutscher Geschichte leisten. Denn auch wenn die Möglichkeiten, Zeitzeug*innen persönlich kennenzulernen, schwinden, muss es eine wichtige Aufgabe bleiben, aus der Vergangenheit zu lernen, um in der Zukunft gegen Ausgrenzung und Ungerechtigkeiten zu kämpfen.  

 

Autorin: Carleen Rehlinger (Praktikantin des Max-Samuel-Hauses)