Eingangsbild

16.05.2023

Ruth Kaiser Nelson, die treibende Kraft in Tulsas Sozialwohnungsbau und aktiv in selbstbestimmter Familienplanung in Oklahoma, Unterstützerin des Max-Samuel-Hauses, Rostock, sowie Philanthropin in vielen weiteren Bereichen, starb am Mittwochmorgen, dem 25. Januar 2023, in Tulsa. Sie war 87 Jahre alt. Selbst großzügige Geberin animierte sie unermüdlich andere zum Spenden für Anliegen des Gemeinwohls. Sie arbeitete jahrezehntelang ehrenamtlich, um Spenden dann auch zweckgemäß und wirksam zum Einsatz zu bringen.

Ruth Kaiser Nelson, die 1989 zunächst als Beirätin in die kommunale Depu-tation der für Sozialwohnungen zuständigen Tulsa Housing Authority (THA) kam, übernahm 1991 deren Vorsitz, bis sie 2016 ihren Abschied nahm. Mit mehr als 25 Jahren im Einsatz für den Sozialwohnungsbau in Tulsa war sie die längst gediente Vertreterin in Tulsas kommunalen Ehrenämtern. Chea Reddit, Präsidentin und Geschäftsführerin der THA während Kaiser Nelsons Vorsitz, bemerkte über die Zeit vor 1989: „Ein großer Prozentsatz unserer Wohneinheiten war mit Brettern verrammelt. Nicht eine unserer Anlagen war umgeben von Gras, geschweige denn von einer Gartengestaltung. Aus Angst vor verirrten Projektilen schliefen viele unserer Bewohner in ihren Badewannen. Offener Drogenhandel war gang und gäbe, und nicht einmal für Mitarbeiter war es sicher, allein in bestimmte Anlagen zu gehen.“ The Tulsa World schrieb 2016 zu Kaiser Nelsons Abschied: „Seit Nelsons Zeit in der Deputation hat sich die Wohnungsbehörde vollkommen gewandelt, fast alle Wohneinheiten sind belegt und größere Renovierungen im Bestand abgeschlossen.“ Hinzu kamen in ihrer Amtszeit neue Wohnanlagen in North Tulsa, West Tulsa und, am bekanntesten, ein in der 10 North Yale Avenue, wo Kaiser Nelson und die THA den öffentlich geäußerten Bedenken von Anwohnern standhielten, und 2009 die vierstöckige Anlage mit 80 Wohneinheiten errichten ließen. Das US-Ministerium Department of Housing and Urban Development (HUD) klassifizierte die Tulsa Housing Authority in den letzten 18 Jahren von Kaiser Nelsons Vorsitz als vorbildlich und „sehr leistungsstark.“

Ruth Kaiser Nelson, Mutter damals junger Kinder, befasste sich 1968 erstmals mit Wohnungsfragen als Vorstandsmitglied des Tageszentrums Tulsa Recreation Center for the Physically Limited für körperlich Behinderte, als dessen Präsidentin sie schließlich fungierte. Im Bemühen darum, Nutzern des Recreation Centers und andern Personen ähnlich gelagerter Umstände, ein unabhängiges Leben in eigener Wohnung zu ermöglichen, suchte Kaiser Nelson die Beziehung zur THA, was schließlich zur Errichtung der Murdock Villa führte, ein Wohnkomplex mit über 140 Einheiten, den die THA 1981 auf einem Nachbargrundstück des Recreation Centers erbaute. Zunächst zog die THA-Deputation Kaiser Nelson nur gelegentlich zu Beratungen hinzu, um Probleme zu lösen, die in den Anfangsjahren der Murdock Villa gar zu Polizeieinsätzen führten. Kaiser Nelson trug nicht nur dazu bei, akute Probleme zu beheben, sondern engagierte sich in der Folge jahrelang für Sozialwohnungsbau.

Seit 1985 engagierte sie sich im Rahmen der Planned Parenthood Federation of America (PPFA) für den Zugang der Menschen zu Beratung und medizinischer Betreuung in Fragen der Familienplanung. Schließlich wählten die Mitglieder im Regionalverband Arkansas and Eastern Oklahoma Kaiser Nelson für mehrere Amtszeiten zur Vorsitzenden. In jener Zeit stempelten landauf, landab Gegner von Schwangerschaftsabbrüchen die Planned Parenthood ab, sie fördere einseitig nur Abbrüche. Kaiser Nelson verfocht klar das Recht Schwangerer, sich frei entscheiden zu dürfen, und stellte zugleich heraus, dass Planned Parenthood Gesundheits- und Bildungsdienste für Frauen biete, vor allem jenen ohne oder ohne ausreichende Krankenversicherung. Die PPFA verlieh Kaiser Nelson ihre höchste Ehrung, den Founders’ Award. Die Beratung und ihr Engagement brachten Kaiser Nelson mit allen ethnischen Gruppierungen, sozialen Schichten und Religionsgemeinschaften in Kontakt. Sie arbeitete mit Priestern, Rabbinern und Pastoren wie Gemeinden aller Couleur zusammen, insoweit es für die Unterversorgten Gutes bedeutete. Sie sammelte Geld für diese Zwecke in jeder nur möglichen Gemeinde, die sich dafür interessierte.

Anlässlich ihres Abschieds aus den Ehrenämtern 2016 nahm die Tulsa Historical Society sie in Anerkennung ihrer Leistungen in ihre "Hall of Fame" auf, wie auch die Tulsa Library sie als Förderin ehrte, während der Stadtrat sie für ihr Wirken im Wohnungswesen, für Frauen und Arme mit der Anerkennung "Key to the City" auszeichnete. Bürgermeister George Theron Bynum sagte am 26. Januar 2023, Ruth Kaiser Nelson sei eine historische Persönlichkeit Tulsas: „Tausende verdanken ihr bessere Unterkünfte, dabei war sie bescheiden, brillant und unermüdlich im Einsatz anderen zu helfen.“ Chea Redditt sagte: „Ihr Antrieb und ihre Entschlossenheit haben Auswirkung auf das Leben zehntausender Tulsaner gehabt – nicht die mit Reichtum oder Macht, sondern jene, denen das Glück minder zugewandt ist. Ob sie es wissen oder nicht, Ruth Kaiser Nelson hat ihr Leben verändert.“ Das Gros ihres Wirkens geschah anonym, ohne dass die Empfänger je erfuhren, wer da half. Da ihre Initiativen, ihre Wohltätigkeit weit über Tulsa bis in den Großraum Oklahoma und darüber hinaus reichten, pflegte Ruth Kaiser Nelson Freundschaften im ganzen Land und rund um die Welt.

Ruth Kaiser kam 1935 in London zur Welt, wohin ihre Mutter Käte Kaiser (1910–1987) auf Empfehlung ihres dort lebenden Bruders Herbert Samuel (1907–1992) gereist war, damit ihr erstes Kind durch Geburt Britin würde. Das bis 1988 in Großbritannien geltende „ius soli“ verlieh allen im Lande Geborenen die Staatsbürgerschaft, wie der Jurist Herbert Samuel wusste. Er genoss seit 1934 ein widerrufliches britisches Aufenthaltsrecht. Seine Nichte Ruth Kaiser dagegen war die erste in ihrer Familie mit unwiderrufbarem Aufenthaltsrecht im sicheren Ausland. Als jüdische Deutsche hatten Kaisers und Samuels bitter erfahren, wie die Regierung ihres eigenen Landes ihnen den Schutz als Bürger entzog und sie gar selbst verfolgte. Mutter und Kind reisten nach Rostock, wo sie in der Villa am Schillerplatz 10 mit Vater Hermann Kaiser (1904–1992), den Großeltern Max (1883–1942) und Berta Samuel (1878–1937) und Urgroßvater Jakob Gessner (1848–1937) zu Hause waren. Urgroßvater und Großmutter starben 1937, Vater und Großvater flohen zu Herbert Samuel nach England, während Ruth und Mutter Käte in Rostock wohnen blieben. Anfang September 1938 nahm Käte ihren Onkel Dr. Hermann Gessner (1875–1950) aus Nürnberg im Hause auf, der durch das im August erlassene NS-Berufsverbot für jüdische Ärzte arbeitslos und mit seiner Frau Julie (1875–1940) nach Aufhebung des Kündigungsschutzes für jüdische Mieter obendrein noch obdachlos geworden war.

1938 Kate Ruth

Ruth mit ihrer Mutter Käthe, etwa 1938

Zu dieser Zeit pokerte Hitler in München darauf, durch Gebietsanspruch auf Teile der Tschechoslowakei einen Krieg vom Zaun zu brechen, mit dem Vorwand, die mehrheitlich deutschsprachigen Tschechoslowaken in den Sudeten müssten zu Deutschland gehören. Die bereits im Exil befindlichen Angehörigen waren in höchster Sorge, dass Ruth und ihre Mutter im Kriegsfall nicht mehr davonkommen würden. Als Mutter der knapp dreijährigen Britin Ruth erfüllte die Deutsche Käte die Voraussetzungen, um ein britisches Visum zu bekommen. Ende September verließen beide Rostock und erreichten England am gleichen Tag, an dem Premier Chamberlain aus München zurückkehrte, wo die Westmächte die demokratische Tschechoslowakei schutzlos an Hitler ausgeliefert hatten, ohne den Krieg letztlich zu verhindern.

Als Teil des Novemberpogroms überfielen NS-Schergen auch das Haus des abwesenden Max Samuel, wo seine Schwägerin und Schwager Julie und Hermann Ge߬ner Aufnahme gefunden hatten. Die drei wurden bedroht und geschlagen, Hausin¬ventar zertrümmert und geraubt, Hermann Geßner gefangen genommen und wie viele jüdische Mecklenburger nach Neustrelitz ins Gefängnis verschleppt. Derweil versuchten die Angehörigen im britischen Exil die beiden zu retten. Es gelang schließlich befristete Besuchsvisa für Großbritannien zu erlangen, so dass beide am 30. Juni 1939 dort ankamen. Ihre Hoffnung, dass die britische Regierung sie bei Ablauf der Frist nicht zurückschicken würde, erfüllte sich. Auch Ruths Verwandte vä¬terlicherseits, Großeltern Kaiser, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins fanden Zuflucht in England, weil Herbert Samuel und seine Frau Ilse sich bei den britischen Behörden für ihre Rettung einsetzten.
Ruths Vater Hermann hatte eine entfernte Tante in Tulsa, die mit ihrem litauischstämmigen Mann Sam Miller, bei der US-Regierung für alle anfallenden Kosten der Lebenshaltung der Flüchtlinge bürgten (Einwanderer-Bürgschaften heißen im US-Recht „Affidavit“), um die deutschen Kaisers in die USA holen zu dürfen. „Our Uncle Sam“, wie Ruth ihn in liebender und dankbarer Anerkennung nannte, konnte so Schritt für Schritt die Kaisers aus dem kriegsgeplagten Großbritannien holen, zuerst Ruth und ihre Eltern 1941, später auch die Großeltern, Tanten, Onkel und deren Kinder. Miller hatte sich 1916 mit einem Altmetallhandel in Tulsa niedergelassen und, nachdem er eine Ölquelle entdeckt hatte, 1934 die Ölgesellschaft Francis Oil & Gas gegründet.
Die Geflüchteten stiegen wie Sam Miller ins Erdöl- und Gasfördergeschäft ein, Ruths Eltern führten die Kaiser-Francis Oil Co., die Ruths Bruder George Kaiser übernahm. Ruth gründete später ihre eigene Ölfirma, die sie erfolgreich führte.

Ruth Kaiser schloss 1954 die Schule ab und studierte anschließend bis 1958 Philosophie an der renommierten Frauenuniversität Bryn Mawr College, an der seit Gründung 1885 Frauen alle Abschlüsse, auch der Doktorgrad, offen stehen. Sie graduierte mit Magna Cum Laude und blieb dem College bis zu ihrem Tode als aktive Förderin verbunden. Von Bryn Mawr, 17 km vom Zentrum Philadelphias entfernt, heiratete Ruth 1958 dorthin. Mit Don Nelson aus Philadelphia gründete sie dort ihre Familie, wo sie 1959 ihr erstes von vier Kindern gebar, Sohn Mike Nelson. Im Jahre 1961 zogen die drei nach Tulsa. Ruth Kaiser Nelson widmete ihrer Familie die gleiche Hingabe wie dem Ehrenamt und der Philanthropie. Sie gab ihren vier Kindern Bücher zu lesen und Berichte, die sie in lebhaften Tischgesprächen diskutierten. Wie ihre Eltern sah sie in Bildung einen Schlüssel zu einem erfüllten Leben, oder wie sie es ausdrückte: „Wenn das Leben eine Reihe von Mahlzeiten ist, weiß - wer gebildet ist - immer, was man isst oder zumindest wie die Speisekarte zu lesen ist.“ Sie sprang ein und unterrichtete Latein an der Holland Hall School, als der Lateinlehrer ihres Sohnes Randolf ausfiel. Sie übernahm das Tennistraining an der Mittelschule ihrer Tochter Pamela, als sie erfuhr, dass die Schule kein Programm für Schülerinnen hatte. Auch die Pfadfinderinnen vom Magic Empire Council unterstützte sie materiell und durch ihr Mitwirken.
Als begeisterte Leserin konsumierte sie täglich drei Zeitungen (The Tulsa World, The New York Times und The Guardian) sowie eine stete Diät an Belletristik und Sachbüchern. Ihr Lieblingsautor war William Faulkner. Später entwickelte sie eine Passion für den Tauchsport. Sie bereiste die Ozeane, um inmitten von Walen, Haien und all den Meereslebewesen zu schwimmen. Sie wurde 1982 von Don Nelson geschieden und heiratete 1994 Tom Murphy, mit dem sie die Liebe zu den New York Yankees und zum Reisen teilte. Sie nahm oft jüngere Verwandte mit auf die Reise. Im August 1993 kam Ruth Kaiser Nelson angelegentlich einer Reise zu einer Familienfeier in Israel in Begleitung ihrer Nichte Emily Kaiser erstmals ins Max-Samuel-Haus.
Auf ihren Reisen oft in abgelegene Ecken der Erde schlief sie in Hütten und badete in natürlichen Gewässern. So auch im September 2016 in Warnemünde, wo die damals 80-Jährige ins erfrischende Nass der Ostsee stieg, wie ihre Mutter Käthe es ihr immer vorgeschwärmt hatte, was Ruth nicht missen wollte. Zur 25-Jahr-Feier des Max-Samuel-Hauses 2016 begegnete sie dem Publikum als Zeitzeugin im Gespräch und wohnte der Präsentation des wieder entdeckten Portraits ihres Großvaters Max Samuel bei. Weniger bekannt ist, dass Ruth sich für Handarbeit begeisterte, eine Leidenschaft, die sie mit ihrer Tochter Pamela teilte.

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Ruth am Grab ihrer Großmutter Berta Samuel auf dem alten Jüdischen Friedhof in Rostock, 2016

Sie war eine treue Unterstützerin der Arbeit des Max-Samuel-Hauses. Der für März 2020 geplante Besuch mit Mann, Kindern und Enkeln musste wegen der Pandemie ausfallen. Ihr jüngster Sohn, der Regisseur und Schauspieler Tim Blake Nelson, hatte Filme im LiWu zeigen und mit dem Publikum ins Gespräch kommen wollen. Angesagt waren „Die Grauzone“ (Grey Zone, 2001) über die Schoah, dessen Regie er geführt hatte, und „O Brother, Where Art Thou? – Eine Mississippi-Odyssee“ von 2000, worin er einen der Hauptdarsteller spielte.

Sie und Tom luden regelmäßig zu Familientreffen, wo sie drei Generationen zusammenführten. Ruth Kaiser Nelson wird von ihrem Ehemann überlebt; ihrem Bruder, George Kaiser; und ihren vier Kindern, deren Ehepartnern und zehn Enkelkindern. Die Synagogengemeinde B'nai Emunah richtete am Freitag, 27. Januar 2023, die Trauerfeier aus, das Letzte Geleit führte dann auf den Friedhof Rose Hill Memorial Park Cemetery, beide in Tulsa, Oklahoma.